User Experience

Storytelling in der User Experience

Storytelling in der User Experience
Beitrag von Hagen Reiling | Freitag, 11. Februar 2022
Kategorie: Experience

Abseits der sicheren Pfade einer Best-Practice-Methode offenbart sich mit der Entwicklung narrativer Nutzererlebnisse eine Welt einzigartiger Interfaces. Ein Fachartikel von Hagen Reiling, zuerst erschienen in der W&V.

Sience-Fiction Interfaces

2002 beobachten Millionen von Kinobesuchern, wie Tom Cruise mit zwei sensorischen Handschuhen ein futuristisches Interface in zauberhafter Choreografie steuert und dabei blitzschnell und offenbar intuitiv durch Bild- und Datenbanken manövriert.

Apple Computer Inc. Company reagiert am schnellsten. Nur ein Jahr und vier Monate nach dem Kinostart von Minority Report veröffentlicht der Technologie- und Softwareriese Mac OS X Panther 10.3, die vierte Hauptversion seines Betriebssystems. Darin enthalten ist die neue Funktion Mission Control (damals noch App Exposé) mit der sich sämtliche aktiven Programme mit einer einfachen Tastenkombination als geordnete Kachel-Übersicht darstellen lassen. Ähnlich einem offen ausgelegten Memory-Spiel kann der Apple-Nutzer schnell und unkompliziert zwischen verschiedenen Anwendungen wechseln. Eine Funktion deren inspirativer Ursprung in Steven Spielbergs Science-Fiction Blockbuster liegt und sich seither bei den Nutzern größter Beliebtheit erfreut. Durch das Touch-Interface des iPhones (2007) und iPads (2010) ließ sich die angepasste Version der Mission Control mit Fingergesten steuern und rückte damit noch ein Stück näher an die fantastische Vision des Originals.

Tatsächlich lieferte die gleichnamige Kurzgeschichte des Science-Fiction Autors Philip K. Dick (1956) die Vorlage zu Spielbergs eindrucksvoller Interpretation von Minority Report. Das Genre der Science-Fiction ist in Film und Literatur wie ein Füllhorn avantgardistischer Technologie-Ideen. Die Granden der Automobilindustrie jagen seit dem Entwicklungsbeginn autonomer Fahrzeuge die Illusion einer holografischen Manifestation der fahrzeuginhärenten künstlichen Intelligenz. Die Vorbilder dieses nach wie vor fiktiven Interface-Konzeptes sind noch deutlich populärer. Den meisten dürften wohl das bläulich flimmernde Konterfei Prinzessin Leias aus Star Wars oder der deutlich natürlich wirkendere Doctor aus der Serie Star Trek: Voyager in den Sinn kommen. Der Wunsch solche futuristischen Visualisierungen Wirklichkeit werden zu lassen, beruht weniger auf der bestechenden Pragmatik dieser Interfaces, sondern vielmehr auf den emotionalen Reizen und der magischen Faszination, die solche Bilder beim Nutzer auslösen. Es sind diese beeindruckenden Erlebnisse, die als Simulation ihren Weg aus der Science-Fiction Geschichte in unseren Alltag finden. In konkretem Bezug auf die Rolle als UX/UI Designer formuliert es Googles Immersive UX Director Alex Cook folgendermaßen: „It’s our job to turn extraordinary events into ordinary everday stories.“ (Design is Narrative , 2019, YouTube)

Selbstverständlich ist die Immersion eines solchen magischen Momentes immer stark an die Qualität und den Fortschritt der verwendeten Technologie gekoppelt. Als Designer sollte man deshalb stets im Blick behalten, welche Interaktionen und Visualisierungen in adäquater Übersetzung des visionären Vorbildes in der Lage sind, ein geschlossenes und authentisches Erlebnis zu bieten. Der Anspruch an Ästhetik und audiovisuellem Feedback ist hoch, denn ist er das nicht, bröckelt die Illusion. „Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.”  So wird der Arthur C. Clarke, der Erfinder von 2001: Odyssey im Weltraum zitiert. Gelingt es also ein immersives Gesamterlebnis aus Technologie und wohl kuratiertem Interface zu gestalten, wird das Nutzernutzerlebnis auf eine emotionale Ebene gehoben, die ähnlich begeistert wie ein Zaubertrick.

Storytelling vs. Nutzerdaten-Analyse

Betrachtet man eine User Journey genauer, ist sie nichts anderes als eine Geschichte. Sie ist eine Kausalkette aus Ereignissen, bei der ein Hauptdarsteller innerhalb eines vorgegebenen Settings eine Mission erfüllen muss. Die moderne UX Konzeption stützt sich aber immer häufiger auf eine völlig andere Prämisse. Benchmark Vergleiche, Nutzer-Analysen und nicht zuletzt das eingefahrene Bauhaus-Credo „Form follows function“ liefern die argumentative Grundlage vieler UX Konzepte. Die Daten werden von verschiedenen UX Research Instituten, Social-Journalism und Blog Plattformen geliefert. Dabei generieren die Institute eine schier unendliche Menge an Best-Practice-Methoden für jeden vorstellbaren Experience Use Case und auf Instagram, Medium oder LinkedIn werden wöchentlich die neusten Top-10 UX Tricks, die man kennen sollte, bevor man stirbt, veröffentlicht. All das sind grundsätzlich valide Orientierungspunkte, um eine zielführende User Experience zu gestalten, allerdings werden sie viel zu häufig als maßgeblich für die Konzeptentwicklung erachtet.

Diese datengetriebene Herangehensweise ist deswegen so beliebt, weil man sich als Designer argumentativ sowohl gegenüber dem Kunden als auch bei der Evaluierung der eigenen Ideen auf harte Fakten stützen kann. Der gemeinsame Nenner dieser Methoden und Tipps ist ihr Anspruch an Effizienz und intuitiver Nutzung. Deswegen ließen sie sich auch als die bestmögliche Variante herauskristallisieren, weil sich der Effizienz beeinflussende Faktor Zeit messen lässt. Emotionale Erfahrungen und magische Momente hingegen entziehen sich beinahe jeglicher Bewertungsmöglichkeit. Darüber hinaus bringen Best-Practice Methoden ein weiteres Problem mit sich. Es handelt sich um Empfehlungen, die für ein breites Nutzerspektrum und eine Vielzahl von Anwendungsbeispielen unterm Strich die beste Lösung sind, aber nie als einzigartig und individualisiert erachtet werden können. In manchen Fällen sind sie sogar kontraproduktiv zur Geschichte, die ein Produkt oder ein Unternehmen erzählen möchte.

Einzigartige Erlebnisse durch digitalen Luxus

Mercedes-Oldtimer als Sinnbild des Luxus

In einer Gesellschaft des Hyperindividualismus und dem omnipräsenten Bedürfnis zu jeder Zeit an jedem Ort die persönliche Entfaltung ausleben zu können, drängt sich ein besonderes Phänomen in das Sichtfeld der User Experience Gestaltung: Digitaler Luxus. Ein Begriff, der bis dato noch wenig Verbreitung genießt und für viele nach wie vor stark an materielle Werte im Analogen gebunden ist. Prinzipiell bedarf eine Luxuserfahrung sowohl im Analogen als auch im Digitalen sechs verschiedener Parameter, die in hohem Maße gegeben sein müssen. Nach Definition des deutschen Dichters H. M. Enzensberger wird das tragende Fundament eines Luxuserlebnisses durch Zeit, Aufmerksamkeit, Raum, Sicherheit, Ruhe und Umwelt gebildet. (Vgl. Enzensberger, H.-M. 1996. Reminiszenzen an den Überfluss. In: Der Spiegel, 51(1996), 108–118.)

Der Designer Christopher Potrawa erläutert in seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung zum Thema, dass ein Nutzer vor allem durch die Verfügungsgewalt über diese sechs Voraussetzungen zu einer digitalen Luxuserfahrung gelangt. Er skizziert auch ein exemplarisches Interface, dass eine deutliche Gegenposition zum Konsens gängiger UX Konzeption einnimmt. „So wäre es z. B. hilfreich, relevante Informationen im UI anzuzeigen sowie dem User Möglichkeiten des digitalen Selbermachens (alias: Customizing) anzubieten. Durch diese erweiterten Zugriffsmöglichkeiten in die Systemgestaltung würden sich der Einflussbereich und damit die Mündigkeit der User deutlich erhöhen. Gleichzeitig wäre für diese umfassendere Nutzung eine vertiefte Kenner- und Könnerschaft gefordert, was aber mit einer Reduktion des Komfortgrades einhergehen würde. Dies bedeutete eine Abwendung von Grundsätzen des heutigen UI-Designs, die eine einfache intuitive Nutzbarkeit für viele Nutzer propagieren.“ (Potrawa, C. (2021). Digitaler Luxus. In: Aufklärung durch Gestaltung in digitalen Umwelten. Hrsg. Bauer, C.; Popp, J.-F.; Schweppenhäuser, G. Wiesbaden, Springer VS) Der Nutzer wird hier als Steuermann einer komplexen Maschine beschrieben. Herr über die Informationslage, Schmied seiner eigenen User Experience. Exakt das richtige Szenario, um eine individuelle Geschichte zu schreiben.

Als bildliche Zusammenfassung bringt es der Wochenendausflug in einem gepflegten Mercedes-Oldtimer vermutlich am besten auf den Punkt. Wer ein solch extravagantes Automobil fährt, erlebt ohne jeden Zweifel einen außergewöhnlichen Moment. Auf der anderen Seite bedarf die Steuerung des mindestens 30 Jahre alten Fahrzeugs auch eines gewisses Sachverständnisses, und von modernem Fahrkomfort kann ohne Klimaanlage und Bluetooth Anbindung kaum die Rede sein. Unstrittig dürfte an dieser Stelle sein, dass die Fahrt im Oldtimer einen bleibenderen Eindruck hinterlässt als in einem aktuellen Golf. Mit Blick auf die User Experience Gestaltung lässt sich daraus folgende Erkenntnis ziehen: Um einen Kunden zu binden, einen Nutzer zu faszinieren, oder den Alltag eines Menschen ein wenig zu verzaubern, muss es nicht immer der schnellste Weg zum Ziel sein. Die Art und Weise und vor allem mit welchem Gefühl der Anwender sein Ziel erreicht, sind essentielle Faktoren für das positive Gesamterlebnis mit einem Digitalprodukt. Erheben wir den Anspruch ein menschenzentriertes Interface zu entwickeln, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Geschichtenerzählen eine zutiefst menschliche Handlung ist. Seit Entstehung der Menschheit ist es Mittel und Weg Wissen zu teilen.

Mehr Mut zum Unbekannten

Wer ein Nutzererlebnis auf Basis eines visionären Narrativs entwickeln möchte, geht stets ein Wagnis ein. Überlässt man dem Anwender eine gewisse Freiheit und versucht ihn in besonderen Momenten zu überraschen, dann sind viele Wegpunkte und Interaktionsschritte der User Journey unbekanntes Terrain. Selbstverständlich erlaubt nicht jedes Projektszenario den notwendigen Spielraum für diese Art von explorativen Konzepten, aber man sollte von Zeit zu Zeit den Schritt aus der Komfortzone wagen. Orientieren wir uns als UX Designer zu häufig am Status Quo, am Best Practice der Benchmark Analyse, an den Ergebnissen globaler User-Trackings, führt das zum langsamen Tod des Neuen. Erzählen wir immer wieder die gleiche Geschichte, langweilt das trotz wechselnder Bilder nicht nur die Nutzer, sondern auch die Gestalter. Inspirative Quellen für neue Geschichten gibt es reichlich. Wie eingangs erwähnt, findet sich hinter den Erzählungen von Schriftstellern wie Isaac Asimov (Foundation-Zyklus) und Stanisław Lem (Solaris), den Bildern von Syd Mead (Blade Runner) und Ralph McQuarrie (Star Wars) oder den Filmen von Steven Spielberg (Ready Player One) und James Cameron (Avatar) ein reichhaltiger Schatz fantastischer Ideen.

Roboter in einer Science-Fiction Szene